Landesprogramm Kontaktstellen Frau und Beruf feiert 30. Jubiläum

Alle neun Kontakstellen wurden für Ihre 30jähriges Engagement geehrt. Foto: Franziska Kraufmann

Eine dreißigjährige Erfolgsgeschichte: Landesprogramm Kontaktstellen Frau und Beruf Baden-Württemberg feiert Jubiläum

Feststimmung beim Landesprogramm Kontaktstellen Frau und Beruf Baden-Württemberg: Am 22. November feierten Beteiligte sowie Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter das 30-jährige Bestehen des erfolgreichen Programms.

Bei der Jubiläumsveranstaltung in Stuttgart mit zahlreichen Gratulierenden dankte Dr. Nicole Hoffmeister-Kraut, Ministerin für Wirtschaft, Arbeit und Tourismus, allen Beteiligten für ihren engagierten Einsatz: „Die Kontaktstellen leisten mit ihrer Arbeit einen maßgeblichen und nachhaltigen Beitrag für die berufliche Chancengleichheit und die Erschließung des Fachkräftepotenzials von Frauen.“

Das Landesprogramm Kontaktstellen Frau und Beruf ist eine dreißigjährige Erfolgsgeschichte.

Dr. Nicole Hoffmeister-Kraut, Wirtschaftsministerin

Erfolgsfaktoren dieser Entwicklungen sind aber nicht nur außerordentliches Engagement, starker Zusammenhalt und Einigkeit im Ziel, sondern auch die überaus konstruktive Zusammenarbeit mit den regionalen Trägern der Kontaktstellen. Ihnen sprach Hoffmeister-Kraut ihren besonderen Dank aus: „Ohne Ihre langjährige Bereitschaft zur Mitfinanzierung und Trägerschaft des Programms wäre es nicht möglich gewesen, eine solche nachhaltige Beratungsstruktur im Land aufzubauen, fest zu implementieren und stetig weiterzuentwickeln.“

Die Ministerin betonte in ihrer Rede, dass eine innovative und zukunftsfähige Wirtschaft starke Frauen als qualifizierte Fach- und Führungskräfte, Gründerinnen und Unternehmerinnen brauche und die Erschließung dieses Fachkräftepotentials von Frauen nur gemeinsam gelingen könne.

 

Zeitgemäße und innovative Ausrichtung des Programms als Ziel

Trotz vieler Fortschritte bleibe Gleichstellung der Geschlechter eine Herausforderung. Trotz besserer Qualifikation würden Frauen immer noch häufig in Berufen mit geringeren Einkommenschancen arbeiten, so die Ministerin. Und auch die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit einer partnerschaftlichen Aufteilung der Sorgearbeit sei häufig noch zu groß.

Deshalb ist es der Ministerin wichtig, die Weichen für die Zukunft des Landesprogramms zu stellen und das Programm weiterhin auf innovative und zielgruppengerechte Ansätze auszurichten. Die aktuellen Herausforderungen dabei: die demografische Entwicklung, die Fachkräftesicherung, die wachsende Vielfalt und Zuwanderung im Land sowie die Veränderungen der Arbeitswelt durch die Digitalisierung und Künstliche Intelligenz.

Herausforderungen, deren Bewältigung laut Hoffmeister-Kraut entscheidend für die Zukunftsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes Baden-Württemberg seien. „Lassen Sie uns an die hervorragende Arbeit der vergangenen 30 Jahre anknüpfen und gemeinsam an einer ebenso erfolgreichen Zukunft weiterarbeiten“ schloss die Ministerin.

Seit drei Jahrzehnten beraten die Kontaktstellen Frau und Beruf Frauen in Baden-Württemberg zu beruflichen Themen. Tauchen Sie ein in eine einzigartige Erfolgsgeschichte.

Gleichstellung als demokratischen Wert stärken

Auch die Direktorin der Bundesstiftung Gleichstellung, Lisi Maier, gratulierte zum Jubiläum, lobte die gute Zusammenarbeit und das lange Wirken der Kontaktstellen für Gleichstellung. Sie bestärkte alle Beteiligten darin, den Kampf für Gleichstellung weiter aktiv zu führen, da gerade Corona gezeigt habe, wie schnell es zu Rückschritten kommen könne, wenn die Gesellschaft nicht ständig ihr politisch-strategisches Handeln hinterfrage. Gleichstellung müsse als immanenter Bestandteil der Demokratie betrachtet werden: „Halbe Kraft reicht nicht aus, es geht um volle Kraft voraus, um dem Rollback der Corona-Jahre den Fast Forward entgegenzusetzen.“ Denn laut Maier mache es einen gravierenden Unterschied für Frauen, ob sie eigenständig genug Geld verdienen, um sich zum Beispiel aus einer Beziehung lösen zu können, ohne Angst vor einem Leben in (Alters-)Armut.

 

Das Glas ist halbleer – strukturelle und kulturelle Gründe hemmen weiterhin echte Gleichberechtigung

Die renommierte Soziologin und ehemalige Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB), Prof. Dr. h.c. Jutta Allmendinger, Ph.D., zeigte in ihrem Impulsvortrag auf, warum die zahlenmäßigen Fortschritte der letzten Jahre mit Blick auf die Erwerbstätigkeit von Frauen oder deren Anteil an Führungspositionen trügerisch seien. Das Glas der Gleichstellung sei weiterhin „eher halb leer statt halbvoll“.

Frauen seien zwar häufiger erwerbstätig als früher, aber eben auch überdurchschnittlich oft in Teilzeit, nicht zuletzt wegen des Ehegattensplittings wie Allmendinger feststellt. Sie lägen zwar beim Berufseinstieg hinsichtlich der Gehälter gleichauf mit den Männern. Später erzielten sie in ihren Berufen aber deutlich geringere Karrieregewinne.

Zwar seien Frauen häufiger in Führungspositionen als noch vor zehn Jahren, aber immer noch zu selten an der Spitze von Unternehmen, Aufsichtsräten oder Institutionen, um eine nachhaltige Eigendynamik zu entfachen. Sie seien zwar so gut qualifiziert wie nie, aber hätten aufgrund statistischer Diskriminierungen* immer noch geringere Aufstiegschancen.

Die Studienlage zeige, dass dieses Ungleichgewicht sogar unabhängig von Kindern in einer Partnerschaft bestehe. So erzielten Frauen auch in einer Partnerschaft ohne Kinder durchschnittlich 250.000 Euro weniger Lebenseinkommen als ihre Männer. Kämen Kinder hinzu, verschärften sich diese Unterschiede dramatisch, so Allmendinger. Während Männer nach Geburt eines Kindes ihre Arbeitszeit sogar um durchschnittlich zwei Stunden erhöhen, sinke das Arbeitsvolumen bei Frauen deutlich und für lange Zeit. Viele Frauen arbeiteten dann sogar in nicht rentenwirksamen Mini-Jobs. Ihr Wiedereinstieg in den Beruf werde unterbewusst immer noch mit den spezifischen kulturellen Erwartungen an „gute Mütter“ abgeglichen.

All diese strukturellen und kulturellen Unterschiede münden in einem noch größeren Gefälle bei den Lebenseinkommen als in kinderlosen Partnerschaften: Frauen mit zwei Kindern erzielen im Schnitt 1,2 Millionen Euro weniger Einkommen im Leben als Männer mit zwei Kindern. Für Allmendinger eine bittere Erkenntnis, der aus ihrer Sicht bundesweit mit folgenden Maßnahmen auf mehreren Ebenen begegnet werden müsste:

  • Qualitätsoffensive für Kitas ähnlich dem Start-Chancen Programm in Schulen
  • Qualitative Ganztagsschulen
  • Abschaffung des Ehegattensplittings
  • Politische Umsetzung der Familienstartzeit**, die nachweislich signifikante Effekte auf das Engagement von Vätern in der Sorgearbeit über das ganze Leben hinweg habe.
  • Deutliche Erhöhung der Lohnersatzrate während der Elterngeldmonate (derzeit 66 Prozent), um Männern stärkere Anreize für Elternzeit zu geben, ohne dass das Familieneinkommen zu stark sinkt.
  • Mehr Anreize für Männer in Unternehmen und Organisationen, in Elternzeit zu gehen.
  • Paritätsgesetz für Gremien und Institutionen aller Art, weil nachweislich erst ab einer Quote von 40% Frauenanteil eine sich selbst verstärkende Dynamik einsetze und gleichzeitig der Gender Wage Gap sinke.
  • Mehr Männer in so genannte Frauenberufe bringen.
  • Gleichstellungspolitik müsse endlich auch eine „Männerpolitik“ werden und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf bei Männern in den Blick nehmen.
  • Eine ernsthafte Diskussion über geeignete Arbeitszeiten zur fairen Verteilung der Sorgearbeitsbelastungen. Allmendinger plädiert für eine 35-Stunden-Woche für Männer und Frauen statt der Maßgabe „Vollzeit für Alle“.

Vielleicht  haben wir in dreißig Jahren mal die Situation, in der die Frauen Männern bei der Gleichberechtigung helfen.

Prof. Dr. h.c. Jutta Allmendinger

Ein Blick in die Praxis - Erfolgsfaktoren für mehr Gleichstellung in Unternehmen, Beratung und Partnerschaft

Auf dem Podium diskutieren anschließend Ministerialdirekter Michael Kleiner, Unternehmerin und Präsidentin der IHK Nordschwarzwald Claudia Gläser, die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Mannheim Zahra Deilami und Inge Zimmermann, Leiterin und Frau der ersten Stunde der Kontaktstelle Frau und Beruf Stuttgart. Das Thema: „30 Jahre Engagement für berufliche Chancengleichheit in Baden-Württemberg – unsere Erfolgsgeschichten und Perspektiven für die Zukunft“.

Inge Zimmermann betonte, dass Unternehmen durch eine Zusammenarbeit mit den Kontaktstellen sowohl vom direkten Kontakt zu weiblichen Fachkräften profitieren als auch von konkreten Informationen und Impulsen zu familienbewusster Personalpolitik. Auch Zahra Deilami plädierte für eine stärkere Unterstützung und Zusammenarbeit der Wirtschaft mit den Kontaktstellen.

Claudia Gläser sah auch die Frauen in der Verantwortung. Aus ihrer Sicht könnten es sich viele Unternehmen überhaupt nicht leisten, auf weibliche Fachkräfte zu verzichten und hätten bereits viel für familienbewusste Strukturen getan, beispielsweise bei der flexiblen Arbeitszeitgestaltung. Frauen sollten sich deshalb mehr trauen, die Chancen zu ergreifen, die sich bieten.  Im Gegenzug müssten sie von ihren Partnern eine gleichberechtigte Aufteilung der Sorgearbeit einfordern. Während Gläser in ihrem eigenen Unternehmen bereits eine neue Vätergeneration beobachtet, die ihrer Verantwortung gerecht werden möchte, bereite ihr die angespannte Kinderbetreuungslage Sorge. Die führe dazu, dass so mancher Wunsch und Plan der Vereinbarkeit zunichte gemacht würde. Für den Fall, dass das eigene Unternehmen strukturell bisher nicht familienorientiert aufgestellt sei, riet Gläser auch dazu, diese Unternehmen durch einen Arbeitgeberwechsel aktiv zum Umdenken zu bewegen.

Wir erziehen ja auch immer die Eltern von morgen und ich sehe durchaus, dass sich die Einstellungen bei den jungen Eltern bewegt haben.

Claudia Gläser, Präsidentin IHK Nordschwarzwald

Zahra Deilami wünschte sich eine bessere Integration von Frauen mit Migrationsgeschichte in den Arbeitsmarkt. Die Gesellschaft müsse eine gemeinsame Strategie entwickeln, um sich -ohne moralischen Fingerzeig- struktureller Benachteiligungen und Vorurteilen bewusst zu werden. Frauen mit Migrationsbiografie sollten endlich als Expertinnen gesehen werden, die dank ihrer guten Ausbildungen, Mehrsprachigkeit und interkulturellen Kompetenzen helfen könnten, eine neue Denk- und Handlungskultur in Institutionen und Organisationen zu etablieren.

Bevor die Kontaktstellen für ihr Engagement einzeln geehrt wurden, wagten die Podiumsgäste einen Blick in die Zukunft. Ministerialdirektor Michael Kleiner wünscht sich, dass die Gesellschaft den von Jutta Allmendinger angesprochenen Kipppunkt der 40%-Marke Frauenanteil in Organisationen und Institutionen erreichen möge, damit Gleichstellung und Repräsentation eine Eigendynamik erreichen, die es für viele Frauen einfacher mache, ebenfalls Wege in Spitzenpositionen einzuschlagen. Zimmermann appellierte an die Unternehmen und die Männer, sowohl in der Unternehmenskultur als auch persönlich neue Akzente für mehr partnerschaftliche Aufteilung zu setzen. Claudia Gläser mutmaßte mit einem Augenzwinkern, dass es in 30 Jahren eventuell Kontaktstellen „Männer und Beruf“ geben könnte. Zahra Deilami forderte schließlich die Frauen auf, durch aktives Handeln für sich auf- und einzustehen statt „nur“ empört zu sein. Zudem forderte sie die Wirtschaft auf, die Kontaktstellen Frau und Beruf finanziell zu unterstützen.

 

Hintergrundinformationen zu den Kontaktstellen Frau und Beruf

Mit dem Landesprogramm Kontaktstellen Frau und Beruf verfolgt das Land seit 30 Jahren die Ziele, die Gleichstellung von Frauen im Beruf voranzubringen, das weibliche Fachkräftepotenzial für den Wirtschaftsstandort Baden-Württemberg zu erschließen und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu verbessern. Aktuell fördert das Land neun Kontaktstellen an 15 Standorten in Baden-Württemberg. Mit ihren regionalen Angeboten leisten die Kontaktstellen seit drei Jahrzehnten einen unverzichtbaren Beitrag zur Integration von Frauen ins Erwerbsleben. Sie beraten rund 6000 Frauen jährlich zu beruflichen Themen wie berufliche Orientierung, Wiedereinstieg, Weiterbildung, Aufstieg,  Unternehmensgründung sowie zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Dabei kooperieren sie  eng mit Wirtschaftsorganisationen, Bildungsträgern, Arbeitsagenturen und Unternehmen. Jährlich werden zudem rund 10.000 Frauen und 3000 Unternehmen über Veranstaltungen der Kontaktstellen im Land erreicht.

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* Statistische Diskriminierung bedeutet, dass Arbeitgeber nur über unvollständige Informationen über die Produktivität einzelner Arbeitnehmender verfügen. Sie verwenden deshalb repräsentative, sozialstatistische Merkmale von Gruppen (z.B. Nationalität, Alter, Geschlecht, soziale Herkunft, Religion, Qualifikationsniveau) zur wahrscheinlichkeitstheoretischen Einschätzung der Eigenschaften von Gruppenmitgliedern. Im Fall von Frauen wären das zum Beispiel Zuschreibungen, dass sie wegen einer möglichen Familienplanung in der Zukunft weniger leistungsfähig sein könnten oder zu lange ausfallen.
Quelle: Wirtschaftslexikon
 
** zweiwöchige Partnerfreistellung nach der Geburt bei vollem Lohnausgleich.