Ines von Jagemann ist seit Mitte 2021 Vorständin bei der Schwarz Gruppe, dem größten Handelsunternehmen in Europa.
Sie verantwortet als CEO das Digital-Geschäft von Lidl.
Zuvor war sie als Geschäftsführerin des Digital-Geschäfts bei Tchibo tätig. Neben den digitalen Geschäftsbereichen trug sie als Vorstandsmitglied die Verantwortung für die IT sowie die digitale Transformation des Unternehmens.
Vor ihrem Wechsel in 2011 zu Tchibo war sie Geschäftsführerin der Consist Software Solutions GmbH, einem international tätigen IT Dienstleister in Kiel.
Beim Digital Lunch der Spitzenfrauen gab sie interessante Einblicke in ihre Karriere als Digital-Expertin. Lesen Sie hier das Interview mit Ines von Jagemann.
Sie haben Informatik und Sprachen studiert. Eine ungewöhnliche Kombination?
Von Jagemann: Ich hatte großes Interesse an beiden Themen und bin meinen Neigungen nachgegangen. Ich hatte damals schon eine Informatik-AG an der Schule und fand das sehr spannend. Mich hat immer schon das lösungsorientierte und analytische Arbeiten gereizt, weniger das Programmieren, das meinen männlichen Kollegen so wichtig war.
Und Sprachen sind für mich der Schlüssel zur Kultur. Ich wollte immer schon im internationalen Kontext und in einem großen Unternehmen arbeiten, weshalb ich meine Sprachkenntnisse vertieft habe.
Sie haben dann Karriere gemacht im Zukunftsbereich Digitalisierung. Wie waren Ihre Schritte dorthin?
Von Jagemann: Ich habe zunächst ganz klassisch Informatik studiert. Es gab ja noch nicht diese vielen differenzierten Studienwege, die ein klares Berufsziel haben, so wie es sie heute gibt.
Programmieren war für mich nie das Ziel, sondern eher ein Mittel um Lösungsansätze für Kunden zu entwickeln.
Während des Studiums bin ich dann in ein IT-Unternehmen gegangen, um herauszufinden, was ich mit meinem Informatikstudium machen kann und was mich anzieht.
Ich bin dabei meinem Herzen gefolgt und hab mir eine Firma ausgesucht, die auf individuelle Lösungsansätze für Kunden gesetzt hat.
Dort konnte ich ein neues Geschäftsmodell entwickeln und das war genau das, worauf ich Lust hatte. Mein Geschäftsmodell hat die Firma dann an einen weltweit tätigen Kunden verkauft.
Im Anschluss sollte ich das dann bei den Kunden in zwölf Ländern aufbauen, obwohl ich das gar nicht vorhatte, da das Projekt zunächst nur studienbegleitend angelegt war.
Das war dann mein Eintritt in dieses Berufsfeld.
Gab es damals schon viele Frauen im IT-Bereich?
Von Jagemann: Das Unternehmen - eine Ausgründung eines Maschinenherstellers - war super männerdominiert. Das Unternehmen war schon etwa 20 Jahre am Markt und die Profitabilität und das Umsatzwachstum stagnierten zu dieser Zeit. Mit meinem Geschäftsmodell sollten die Kunden nachhaltiger gebunden werden. Es gab unheimlich wenig Frauen im Team, die dann ganz klassisch nach der Familiengründung nicht wieder zurück kamen, weil sie keine 100-Prozent Stelle im Projektgeschäft mehr ausfüllen konnten.
Mein neues Geschäftsmodell war aber viel flexibler, was die Arbeitszeiten anging. Trotzdem musste ich dafür kämpfen, dass ich flexiblere Jobs durchsetzen konnte. Nachher fanden es alle klasse, aber keiner war bisher auf die Idee gekommen. Ich hatte dann tolle Mitarbeiterinnen. Es ist ja viel schöner ein diverses Team zu haben. Ich habe sehr jung - nach knapp einem Jahr - schon Führung übernommen und habe dann immer absolut gemischte Teams gehabt.
Ist es in einem männerdominierten Bereich noch schwieriger deutlich zu machen, dass es dem Unternehmen schadet, Frauen gehen zu lassen?
Von Jagemann: Keiner setzt sich hin und sagt: „Ich will nicht, dass die Frauen wieder kommen“. Aber die Rahmenbedingungen für Frauen zu schaffen, hat viel mit Transformation zu tun. Ich habe später das ganze Unternehmen transformiert, weil mein Geschäftsmodell deutlich profitabler war als das bisherige. Ich habe dabei viel hinterfragt. Auch das Führungsleitbild.
Hat es für die Transformation in Ihrem damaligen Unternehmen eine Frau gebraucht?
Von Jagemann: Ich glaube, es hat geholfen, weil ich eine ganz andere Herangehensweise habe, was nicht unbedingt frauenspezifisch ist. Es hat mehr damit zu tun, wie offen man ist und wie gut man Veränderungsprozesse gestalten kann. Aber dafür bringen Frauen ein Faible mit. Deshalb sind Frauen dafür prädestiniert.
War für die Serviceorientiertheit Ihres Geschäftsmodells ein weiblicher Blick hilfreich?
Von Jagemann: Die Geschäftsmodelle werden immer diversifizierter. Da braucht man einen Gesamtblick und oft auch ein feines Gespür für weitere Facetten, was ich bei männlichen Kollegen, die schon länger im Job sind, oft so nicht gesehen habe.
Liegen in der digitalen Transformation denn auch Chancen für Frauenkarrieren?
Von Jagemann: Ja, auf jeden Fall. Transformation heißt ja nichts anderes, als dass sich alles wandelt und sich Unternehmen mit ihren Angeboten anpassen müssen. Transformation hat drei Kernelemente: Erstens muss ich mein Geschäftsmodell wieder attraktiv für meine Kunden machen. Das zweite ist die Technologie - viele Firmen haben hier den Sprung bei der Digitalisierung verpasst - und das dritte ist die Unternehmenskultur und die Führung, die in einem Unternehmen den Nährboden für die Entwicklung darstellen. Diversität, nicht nur Gender, sondern auch unterschiedliche Kulturen, sind aus meiner Sicht sehr wertvoll für das Unternehmen.
Warum sind denn Frauen im Bereich Digitalisierung immer noch unterrepräsentiert?
Von Jagemann: Wenn wir immer nur die IT in den Mittelpunkt stellen, erreichen wir die Frauen nicht. Wenn wir aber verständlich machen, dass es um das Business und dessen Veränderung geht und dass wir dafür Kenntnisse zur Technologie brauchen, brechen wir das auf. Man muss das jungen Menschen schon früh vermitteln, dass die Technologie (der MINT-Bereich) ein „Enabler“ (ein Wegbereiter) ist.
Welche Rolle spielt die Unternehmenskultur bei der Stellensuche?
Von Jagemann: Die Unternehmenskultur ist ein sehr wichtiges Thema und ich empfehle allen, sich das ganz genau anzusehen, weil sich die Unternehmenskultur maßgeblich darauf auswirkt, ob man sich in einem Unternehmen wohlfühlt und sich auch entwickeln kann. Dabei gibt es große Unterschiede: Nehmen wir eine stabile Branche, wie zum Beispiel das Banken- und Versicherungswesen, die lange gute Zahlen schrieben und sich wenig verändert haben: Wenn das zu mir passt, dann bin ich dort perfekt aufgehoben. Wenn jemand aber sehr schnell ist und Veränderungen liebt, dann kann er da nicht hingehen. Dann stimmt schon die Grundkultur nicht.
Außerdem würde ich Stellensuchenden raten, das Geschäftsmodell anzuschauen: Welche Wettbewerber gibt es? Wie ist das Unternehmen im Markt aufgestellt? Das sagt schon sehr viel darüber aus, wie ein Unternehmen von innen aussieht. Die Unternehmenskultur ist auch immer ein Spiegel der Historie des Unternehmens.
Die dritte Frage zur Unternehmenskultur zielt auf die Eigentümerschaft: Ist es ein börsennotiertes Unternehmen, ein Familienunternehmen oder eine Stiftung? Alle haben unterschiedliche Wertvorstellungen, die einen Rhythmus vorgeben im Unternehmen. Beim börsennotierten Unternehmen richtet sich alles auf die Quartalszahlen aus, es geht immer um die Aktionärsversammlung. Ein Familienunternehmen ist da ganz anders und kann patriarchisch organisiert sein. Das ist etwas ganz anderes.
Was brauchen Frauen, um in MINT-Jobs erfolgreich zu sein?
Von Jagemann: Viele Frauen trauen sich diese Bereiche einfach nicht zu. Das ist eine andere Qualität als „sie haben kein Interesse“. Darauf müssen wir noch viel stärker eingehen. Dann bekommen wir 80 Prozent der Frauen. Ich denke da an eine Frau in meinem Unternehmen, die immer sehr gut war. Aber sie wollte nie die nächste Stufe erklimmen, weil sie sich das nicht zutraute. Das ist ein Aspekt, den dürfen wir überhaupt nicht unterschätzen. Die Frauen dabei zu stärken ist vermutlich die Hauptaufgabe, um mehr Frauen in diese Jobs zu bekommen.