Fachkräftepotenziale im eigenen Unternehmen erschließen – so gelingt’s

Workshop-Teilnehmende stehen vor Pinnwänden und diskutieren

Auf der Konferenz diskutierten die Teilnehmenden in kleinen Workshops verschiedene Maßnahmen zur Fachkräfteförderung direkt mit Unternehmensvertretenden (Foto: Franziska Kraufmann)

Trotz konjunktureller Einbrüche in einigen Branchen bleibt der Fachkräftebedarf in Deutschland hoch. Laut IHK-Fachkräftemonitor fehlen der baden-württembergischen Wirtschaft bis 2035 rund 863.000 Fachkräfte. Gleichzeitig sinkt durch den demografischen Wandel der natürliche Zuwachs an Arbeitskräften. Mit diesen eindrücklichen Daten und Fakten eröffnete Dr. Birgit Buschmann, Leiterin des Referats Wirtschaft und Gleichstellung im Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Tourismus Baden-Württemberg, die erste landesweite Konferenz „Fachkräftepotenziale im eigenen Unternehmen erschließen“ am 8. Juli 2025. 

Ein Blick auf die Statistik zeigt laut Buschmann außerdem: Rund 29 Prozent der Erwerbstätigen zwischen 15 und 64 Jahren arbeiten in Deutschland in Teilzeit – deutlich mehr als im EU-Durchschnitt (18 %). Nur die Niederlande (43 %) und Österreich (31 %) liegen noch darüber. Besonders hoch ist die Teilzeitquote mit 49 Prozent bei Frauen. Für Buschmann lautet die entscheidende Frage also: Wie lässt sich das vorhandene Fachkräftepotenzial im Land besser nutzen? 

Die Konferenz lieferte erste Antworten auf diese Frage. Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft diskutierten, wo ungenutzte Potenziale liegen – und wie diese systematisch aktiviert werden können.

 

Studie zeigt: Größtes Potenzial bei Frauen in Teilzeit ohne betreuungspflichtige Kinder

Grundlage der Diskussion war eine Studie des Tübinger Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung (IAW), erstellt im Auftrag der Stiftung Familienunternehmen. Studienleiter und wissenschaftlicher Direktor des IAW, Prof. Dr. Bernhard Boockmann hob hervor: Das größte Arbeitskräftepotenzial liege bei teilzeitbeschäftigten Frauen, die keine Kinder unter 14 Jahren betreuen.

Würden Frauen dieser Gruppe ihre Wochenarbeitszeit spürbar erhöhen – etwa auf vollzeitnahe Modelle –, ließe sich das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen um rund 2,3 Millionen Stunden steigern. Das entspricht dem Erwerbspotenzial von etwa 1,7 Millionen zusätzlichen Fachkräften.

Auch bei anderen Gruppen bestehen erhebliche Potenziale:

  • Frauen mit Kindern unter 14 Jahren (bis zu 717.000 zusätzliche Erwerbstätige durch mehr Arbeitszeit; 414.000 durch stärkere Erwerbsbeteiligung)
  • Menschen ohne Berufsabschluss (rund 1,2 Mio.)
  • Zugewanderte nach 2010 (432.000)
  • Beschäftigte zwischen 61 und 65 Jahren (414.000)

 

60 Handlungsempfehlungen für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft

Aus ihren Erkenntnissen leitet die IAW-Studie insgesamt 60 konkrete Empfehlungen ab. Einige zentrale Impulse:

  • Steuerliche Anreize anpassen, etwa durch Reform des Ehegattensplittings oder Steuerfreiheit für Ferienangebote durch Unternehmen.
  • Flexible Arbeitszeiten fördern, inklusive gestückelter Modelle.
  • Informationskampagnen zu betrieblichen Betreuungsangeboten und Unterstützungsstrukturen für Migrantinnen und Migranten.
  • Führung in Teilzeit fördern
  • Rückkehrmanagement und generationsübergreifende Zusammenarbeit stärken, etwa über Tandemmodelle.

Talkrunden: Von der Studie zur Praxis

In einer ersten Talkrunde diskutierten Dr. Gisela Meister-Scheufelen (Stiftung Familienunternehmen), Stefan Küpper (Südwestmetall), Farina Semler (DGB BW) und Prof. Boockmann die Zahlen und ihre Implikationen. Einigkeit herrschte darüber, dass vor allem bei Frauen große Potenziale bestehen – das tatsächliche Ausmaß überraschte dennoch viele.
Neben politischen Rahmenbedingungen betonten die Diskutierenden die Rolle gesellschaftlicher Rollenmuster und die Notwendigkeit branchenspezifischer Arbeitszeitlösungen.

Best Practices aus Unternehmen: So geht’s konkret

In einer zweiten Talkrunde berichteten Unternehmen aus verschiedenen von ihren Strategien:

  • ifm Unternehmensgruppe: Steffen Fischer erklärte, dass sich ifm auf ausgewählte, passgenaue Maßnahmen im Bereich Arbeitszeit/Jobdesign fokussiert – etwa auf selbstorganisierte Teams mit Flexibilität bei Arbeitszeiten und -orten. Statt starrer Arbeitszeitmodelle gelten dort sogenannte Funktionszeiten.
  • Roche Diagnostics GmbH: Anna-Maria Karstens betonte die unternehmerische Verantwortung für nachhaltige Fachkräftesicherung. Roche setze daher auf vier Säulen: finanzielle Beratung, Gesundheitsangebote, soziale Vernetzung und das ElternPlus-Programm, das die faire Aufteilung von Sorgearbeit unterstützt.
  • Wafios AG: Florian Kohfink stellte die betriebliche Kinder- und Ferienbetreuung des Maschinenbauers im ländlichen Raum vor. In Kooperation mit dem regionalen Tagesmütterverein und einem weiteren Unternehmen werden bei Wafios in einem so genannten TigeR-Modell (Tagespflege in anderen geeigneten Räumen) Betreuungsplätze für Kinder von 0-3 Jahren bereitgestellt. Außerdem werde in Zusammenarbeit mit einem externen Dienstleister auch ein Ferienprogramm für Kinder von Mitarbeitenden angeboten. Das sei 2024 so erfolgreich gestartet, dass es für 2025 bereits auf zwei Wochen ausgebaut werde.
  • Wirtschaftsförderung Region Stuttgart GmbH: Dr. Sabine Stützle-Leinmüller betonte für die WRS auch die Bedeutung des Mindsets. Es sei gut, zunächst einmal zu Dingen wie Tandemlösungen, eigenständigem Arbeiten, diversifizierter Arbeitsorganisation statt Verfügbarkeit JA zu sagen und dann zu schauen, wie es sich konkret für Teams umsetzen lasse. Die WRS unterstütze Unternehmen dabei, indem sie Best Practices veröffentliche, wissenschaftliche Evidenz zeige und weitere unterstützende Akteure (Beratungsleistungen, Netzwerke, Informationsangebote) bekannt mache.

Deep Dive – was Unternehmen beachten sollten

In Workshops diskutierten Teilnehmende mit den Unternehmensvertreterinnen und -vertretern über deren konkrete Maßnahmen zur Fachkräftesicherung und wie das in andere Unternehmen übertragbar sei:

  • Flexible Arbeitszeitmodelle (ifm): Zentrale Empfehlung: Zuerst eine ganzheitliche Personalstrategie entwickeln – erst dann Maßnahmen ableiten. „Jedes Unternehmen ist anders“, so Fischer.
  • Vereinbarkeitslösungen (Roche): Auch ohne große finanzielle Spielräume können Unternehmen viel bewirken – etwa durch gezielte Beratungsangebote und eine klare interne Kommunikation der Maßnahmen, betonte Karstens.
  • Betriebliche Kinderbetreuung (Wafios): Kohfink machte deutlich, dass es nicht immer eine eigene Betriebskita braucht. Kooperationen mit externen Partnern führen als „kleine Lösung“ ebenfalls zum Erfolg – und bieten Familien echten Mehrwert.

Ein hilfreiches Tool bietet das Netzwerk familyNet mit seinem Online-Guide zur betrieblichen Kinderbetreuung.

 

Fazit: Fachkräftepotenziale aktivieren – jetzt!

Der Fachkräftemangel ist real – und wird sich weiter verschärfen. Klar ist: Unternehmen können aktiv dazu beitragen, Potenziale im eigenen Betrieb zu heben. Voraussetzung ist der Mut, neue Wege zu gehen, Angebote auszuprobieren und diese kontinuierlich im Dialog mit den Mitarbeitenden weiterzuentwickeln. So entsteht eine Win-win-Situation für Unternehmen und Beschäftigte – und ein entscheidender Beitrag zur Zukunftssicherung unserer Wirtschaft. 

Eine Dokumentation zur Konferenz erscheint im September. Informationen dazu folgen auch hier auf der Digitalen Plattform.

 

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